
Wir schreiben den 24. Oktober 1945. Die Welt liegt in Trümmern, nachdem das faschistische Deutschland sie mit einem nie vorher dagewesenen Krieg überrollt hat. Aber anstatt die Welt aufzugeben entscheiden sich die alliierten Siegermächte, eine Weltorganisation zu gründen, „in order to save us from hell“ (früherer UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld).
An diesem denkwürdigen Tag treffen sich in San Francisco nicht nur die fünf offiziellen alliierten Mächte des zweiten Weltkriegs, sondern auch viele andere Staaten aus der ganzen Welt. Und mindestens zwei Gründungsmitglieder sind vertreten, die einen steinigen Weg hinter sich hatten, um nun an diesem Tisch zu sitzen: Ukraine, das größte gänzlich in Europa liegende Land, und Belarus. Denn 1945 waren beide Staaten noch Teil der UdSSR und keine souveränen Staaten. Und dennoch gründen sie die UN mit.
Ziemlich genau 80 Jahre später kann man sich eine UN ohne Ukraine kaum vorstellen. Umso erschreckender ist es, dass Putins Russland seinen geographischen Nachbarn und Mitglied in der UN-Familie völkerrechtswidrig und moralisch verachtenswert überfallen hat.
Über diese besondere Situation eines Kriegs innerhalb der „Familie“, über die besonderen Auswirkungen der Kriegshandlungen auf das Klima und über Hoffnung in Zeiten großer Krisen konnten Nele Grehn, Nergis Zarifi und Tim Pöppel (alle drei Mitglieder der Jungen DGVN Nord) mit Iryna Tybinka, Generalkonsulin der Ukraine in Hamburg, sprechen. Das Interview wurde am 16. August 2025 geführt.
Frau Tybinka, würden Sie sich zu Beginn kurz vorstellen?
Iryna Tybinka:
Vielen Dank für die Einladung und Ihr Interesse. Ich bin seit vielen Jahren im Auswärtigen Dienst der Ukraine und seit Oktober 2020 Generalkonsulin in Hamburg – zuständig für Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen.
Tim Pöppel:
Lassen Sie uns über die Auswirkungen des Krieges auf die Umwelt sprechen. Welche Folgen hat der russische Angriff für Klima und Natur?
Iryna Tybinka:
Die Umweltschäden sind enorm. Russland begeht Kriegsverbrechen, deren Folgen weit über die Grenzen der Ukraine hinausreichen. Über 9.000 Fälle von Umweltzerstörung sind bereits dokumentiert, mit einem Schaden von mehr als 100 Milliarden US-Dollar. Ganze Ökosysteme wurden vernichtet.
Ein besonders schreckliches Beispiel war die Sprengung des Kachowka-Staudamms im Juni 2023. 600 Quadratkilometer Land, darunter viele Dörfer und landwirtschaftliche Flächen, wurden überflutet. Dieser „Ökozid“ hat jahrelange, wenn nicht jahrzehntelange Folgen. Auch die Tierwelt leidet massiv – tausende Tiere starben, Schutzgebiete wie das Biosphärenreservat Askania Nova wurden zerstört.
Hinzu kommen Luftverschmutzung durch Bombardierungen, kontaminierte Böden und Minen im Schwarzen Meer, die sogar Nachbarstaaten gefährden. Diese Verbrechen bedrohen alle 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen.
Tim Pöppel:
Auch das Atomkraftwerk Saporischschja ist immer wieder in den Schlagzeilen. Wie gefährlich ist die Lage dort?
Iryna Tybinka:
Sehr gefährlich. Russland nutzt das größte Atomkraftwerk Europas als Druckmittel. Immer wieder wurden Stromleitungen zerstört, wodurch das Werk auf Dieselgeneratoren umschalten musste – ein unkalkulierbares Risiko. Ukrainische Spezialist*innen arbeiten unter enormem Druck, um Schlimmeres zu verhindern.
Auch andere Atomkraftwerke in der Ukraine sind bedroht. Sogar in Tschernobyl wurde die Schutzhülle des zerstörten Reaktors beschädigt. Solche Angriffe sind nichts anderes als Nuklearterrorismus.
Tim Pöppel:
Sie haben das Wort „Ökozid“ mehrfach benutzt. Sollte dieses Verbrechen im Völkerrecht verankert werden?
Iryna Tybinka:
Unbedingt. Präsident Selenskyj hat 2023 auf der UN-Generalversammlung seine Friedensformel vorgestellt. Zwei der zehn Punkte sind die Umwelt- und Energiesicherheit. Wir wollen, dass Verbrechen gegen die Natur und Ökosysteme endlich strafrechtlich verfolgt werden. Nur so lassen sich solche Taten in Zukunft verhindern.
Nele Grehn:
Vielen Dank für Ihre Einblicke in diese, manchmal etwas versteckten, Auswirkungen des Krieges. Kommen wir nun zur UN. Wie hat sich die Haltung der Organisation zur Ukraine seit Beginn des Krieges verändert?
Iryna Tybinka:
Die Ukraine war von Anfang an aktives UN-Mitglied, auch in Friedensmissionen, zum Beispiel in Jugoslawien oder Afghanistan. Aber die Vereinten Nationen konnten ihren wichtigsten Auftrag – Kriege zu verhindern – im Fall Russlands nicht erfüllen.
Das liegt vor allem am Vetorecht im Sicherheitsrat, wo Russland jede Entscheidung blockiert. Gleichzeitig wird die Ukraine in der Generalversammlung stark unterstützt: Viele Resolutionen bekräftigen die territoriale Integrität der Ukraine.
Nele Grehn:
Sollte für die Kriegsverbrechen in der Ukraine ein internationaler Strafgerichtshof geschaffen werden?
Iryna Tybinka:
Ja, wir arbeiten bereits mit verschiedenen Partner*innen daran. In Den Haag soll ein spezielles Tribunal entstehen, um den russischen Angriffskrieg zu verurteilen. Die juristischen Grundlagen sind weitgehend gelegt. Jetzt geht es darum, die Täter tatsächlich zur Verantwortung zu ziehen.
Nele Grehn:
Setzt die Ukraine dabei mehr Hoffnung auf regionale Institutionen wie die EU und die NATO als auf die UN?
Iryna Tybinka:
Ja. Die EU ist für uns heute der wichtigste Partner, weil wir dieselben Werte und dieselbe Zukunft teilen. Die Einstimmigkeit der EU in vielen Fragen zeigt, wie stark Europa sein kann, wenn es geschlossen handelt.
Auch die NATO bleibt entscheidend. Die Ukraine will ihr beitreten – unsere Armee verteidigt heute schon Europa. Russland darf nicht entscheiden, wer NATO- oder EU-Mitglied wird. Die Ukraine wird die europäische Sicherheitsarchitektur nicht schwächen, sondern stärken.
Gleichzeitig ist die UN für uns ein wichtiges Forum, um auf die aktuelle Situation aufmerksam zu machen. Allerdings bleibt die UN aufgrund des Vetorechts im Sicherheitsrat leider oft hinter ihren selbstgesteckten Zielen zurück.
Nergis Zarifi:
Danke für diese spannenden Eindrücke, Frau Tybinka. Zum Abschied würden wir Sie gerne noch fragen, wie Sie sich in diesen schwierigen Zeiten resilient halten und sich Ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft bewahren.
Iryna Tybinka:
Wir haben keine Alternative – es geht um unser Überleben. Hoffnung gibt mir, dass Europa die Bedrohung inzwischen klar erkennt und geschlossen handelt. Früher gab es viele Verzögerungen, heute sehen wir Entschlossenheit und Einigkeit.
Die Ukraine weiß genau, wofür sie kämpft: für Freiheit, Gerechtigkeit und das Völkerrecht. Wir alle müssen uns resilient halten und Stärke zeigen – und ich habe keinen Zweifel, dass Europa stärker ist als Putins Russland.
Nergis Zarifi:
Zum Schluss: Was möchten Sie unseren Leser*innen mitgeben?
Iryna Tybinka:
Zunächst danke ich Ihnen für Ihr Interesse. Viele Menschen haben das Bedürfnis, sich von diesem Krieg abzuwenden, um nicht unter Angst und Apathie einzugehen. Aber so schwer es auch ist, wir müssen uns mit diesem Krieg und dem Aggressor beschäftigen.
Wir müssen zusammenhalten und entschlossen handeln. Mein Wunsch ist, dass wir als eine vereinte Gemeinschaft Mut, Resilienz und Zuversicht bewahren – im Vertrauen darauf, dass wir auf der Seite der Wahrheit und der Gerechtigkeit stehen. Dann wird der Sieg auf unserer Seite sein.